FEATURE | 30 June 2018

Interview, Text & Photos: Martin Hufnagel

ATEM

Nach seinem Schulabschluss reiste ATEM Gründer Nelson nach Spanien und machte Portemonnaies aus alten Segeln, die er am Wegesrand fand. Heute ist ATEM bekannt für schöne Taschen und Accessoires, die die perfekten Begleiter sind. Contemporary timelessness.
Ich habe Nelson an der Chipperfield Kantine in Berlin getroffen, um mit ihm ĂĽber die Philippinen zu sprechen, wie schnell eine Idee zu einem Produkt wird, des Retail und die schwulste Stadt Deutschlands.

BUY ATEM AT THE WASTED HOUR

Nelson, nachdem wir die letzten Tage miteinander in Berlin verbracht haben, ist mir wieder bewusst geworden, was für ein fröhlich-positives Naturell du hast. Wie sieht ein perfekter Tag für dich aus?

Mein perfekter Tag besteht darin, dass ich gut frĂĽhstĂĽcke. Ich brauch’ auf jeden Fall immer einen Kaffee und was kleines SĂĽĂźes. Dann bemĂĽhe ich mich sehr, ein bisschen Zeit mit mir alleine zu verbringen, das ist mir total wichtig. FĂĽr mich gibt es einige Strategien und Parameter, um auf ein Level zu kommen, wo ich dann kreativ arbeiten kann. Ich finde auch meine Ruhe beim Spazierengehen drauĂźen. Oder ich räume meinen Schreibtisch, die Wohnung oder das Atelier auf. 

Wir sind hier gerade in Berlin-Mitte, fĂĽr Kaffee und Kuchen in der Chipperfield Kantine. Du wohnst nun schon seit einiger Zeit hier um die Ecke. Davor bist du schon viel herumgekommen, vor allem in Deutschland. AuĂźerdem sind deine beiden Eltern von den Philippinen. Welche philippinischen EinflĂĽsse spĂĽrst du bei dir?

Ich muss gestehen, dass ich mit dem Land selber gar nicht so viel zu tun habe, da ich hier in Deutschland geboren und aufgewachsen bin. Aber natürlich hatte ich auch eine Phase in meiner Jugend, in der ich mich intensiv damit beschäftigt habe, wo meine Eltern herkommen. Bei der Suche nach meiner Identität habe ich versucht, durch meine Eltern mich selber zu finden, und der Anfang lag bei mir ganz klar bei meiner philippinischen Mutter. Auch bei meinem Vater zwar, aber der ist leider früh verstorben.

Oft sind wir frĂĽher in den groĂźen Sommerferien auf die Philippinen gereist und damit habe ich eine Idee davon bekommen, wo sie herkommen. Dort habe ich explizit die Orte gesucht, wo mein Vater Spuren hinterlassen hat, und diese dann auch gefunden. In einem College an einer Wand stieĂź ich dann auf eine alte Zeichnung von ihm, das hat mich total glĂĽcklich und stolz gemacht. Auch auf dem Dachboden waren viele ErinnerungsstĂĽcke an meinen Vater.

Auf den Philippinen wird Homosexualität geduldet, ist wohl aber noch wegen des katholischen Hintergrundes mit vielen Tabus behaftet. Hattest du damit bezüglich deines eigenen Coming-outs Berührungspunkte, dass dich das geprägt hat, oder warst du davon losgelöst?

Es hat auf jeden Fall Einfluss auf meinen Charakter und auf mein Leben gehabt. Auf der einen Seite ist es gesellschaftlich akzeptiert und man sieht auf den Straßen Trans- und Homosexuelle, die sich ausleben können und akzeptiert werden. Man lacht und tanzt zusammen, unabhängig von der Abstammung, Nationalität und sexueller Orientierung. Die Vielseitigkeit wird auf jeden Fall gelebt. Auf der anderen Seite wird es leider oft in den eigenen vier Wänden nicht anerkannt. Das ist dann immer der Clash, der für mich total kompliziert war. Da deckt sich die erste öffentliche Wahrnehmung nicht mit dem eigenen Prozess zu Hause. Aber das ist vielleicht auch hier in Deutschland so.

Mittlerweile hast du seit einigen Jahren dein eigenes Label, ATEM. Bevor es soweit kam, was war dein erster Kontakt mit Mode?

Also, ich kann mich noch erinnern, dass ich mit einem Freund in einem Bulli unterwegs war nach Spanien. Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits das Abitur und war frisch mit dem Zivildienst fertig. In der Phase wusste ich noch gar nicht, was ich machen wollte. Grafikdesign war ein groĂźes Thema, Mode war ein inniger Wunsch.

Auf dem Weg in den Urlaub kam es dann dazu, dass wir am Straßenrand alte Segel gefunden haben, die ausrangiert wurden. Die hatten wir eingesammelt, da wir dachten, das ist so ein rares Material, das findet man nicht so oft. Schon beim Einpacken hatten wir die ersten Ideen, was wir damit machen. Letztendlich haben wir dann komplett alleine daraus Taschen und Portemonnaies gemacht. Wir hatten keine Ahnung von Nähen und Schnittemachen, aber wir haben uns einfach andere Produkte als Vorbild genommen und uns dann abgeschaut, wie was funktioniert. Im nächsten Schritt haben wir ganz naiv die ersten Läden besucht und wollten die verkaufen. Das hat sogar wunderbar funktioniert, weil wir Feuer gefangen hatten, das übertrug sich auf andere. Irgendwie war es die Geschichte und unser Charme, der begeistert hat.

Dann hab ich dann Sonderpädagogik zu studieren und hatte 2 Fächer: Deutsch und Kunst. Im ersten Semester war Siebdruck das Thema und dann konnte ich die dort erlernten Sachen in meinem privaten Projekt umsetzen, deswegen waren kurze Zeit später die ersten T-Shirts fertig.

Durch das Studium kam also das theoretische und praktische Wissen. Wie ging es dann weiter? Bei Sonderpädagogik bist du ja nicht geblieben, oder?

Ich hab zuerst eine Schneiderlehre gemacht und dann Modedesign studiert. 

Was hattest du fĂĽr Ambitionen?

Während des Studiums der Sonderpädagogik habe ich gemerkt, dass das Theoretische nichts fĂĽr mich ist. Die reine Aneignung von Wissen hat mir keinen SpaĂź gemacht, im Gegensatz zum Erlernen von handwerklichen Tätigkeiten. Ich hatte mir fest vorgenommen das Handwerk zu können, bevor ich ins Design gehe, um nicht nur theoretisch vorzugehen. So folgte eine dreimonatige Ausbildung auf den Philippinen. Da konnte ich auch meinen Wissensdurst stillen bezĂĽglich meiner Familie, der Kultur meiner Eltern, die sie mir vermittelt haben und die auf mich abgefärbt hat. Die wollte ich aufsaugen, aufnehmen und mit nach Hause bringen. In Deutschland sind wir in einen Alltag eingebettet, und da ist es nicht wirklich möglich, allein durch einen philippinischen Supermarkt oder ein philippinisches Restaurant allein das LebensgefĂĽhl von dort zu spĂĽren. Meine Mutter hat das beschäftigt und sie hatte oft Heimweh.  

Als du dann ins Modedesign gegangen bist, gab es fĂĽr dich Vorbilder, die dich inspiriert haben? 

Bei mir war es total die Ästhetik von Jil Sander. Dadurch dass mein Vater Architekt war, hatte ich mich schon mit graphischen Linien beschäftigt. Die Zeichnung von meinem Vater, die ich gefunden habe, konnte ich damit endlich verstehen. Richtig toll fand ich auch Hussein Chalayan. Das war für mich das Konzeptionelle. Dries van Noten war dann die Arbeit mit Oberflächen und Textilmustern.

Später hast du dann dein eigenes Label gegrĂĽndet: ATEM, mit dem du dich auf Taschen fokussierst. Irgendwie fast schon eine Fortsetzung von dem, was mit der Reise nach Spanien angefangen hat. Was war deine Vision? 

Die ersten Modelle waren inspiriert von einer Tasche von meiner Tante aus Barcelona. Die hatte sie aus der Besenkammer rausgefischt… oder ne, ich glaube, ich hab die selber gefunden, nachdem ich mich auf die Suche begeben habe. Von Natur aus bin ich jemand der sucht und findet, schon immer. Besonders Sachen, mit denen man spontan nichts verbindet. Auf einmal wird aus dieser Sache, die einen umgibt, etwas, weil man ihr eine Bedeutung zuspielt. Das spiegelt sich auch ja bei der Geschichte mit den Segeln wieder.

Nelson putting his finishing touches on the ATEM Lea Bag in black

Vom Finden oder In-die-Hände-Geraten angefangen, dann der vollständige Zyklus. Wie sieht der weitere Prozess aus?

Genau! Und so ist auch die Herangehensweise bei meinen Produkten. Ich hab’ eine Idee im Bezug auf eine Tasche im Kopf und stelle mir dann ganz einfache Fragen: Wo kommen die täglichen Dinge hin, die ich brauche? Auf die Frage ergeben sich dann die Maße. Ich neige dazu, die perfekten Maße finden zu wollen. Das treibt mich immer an: Dinge nochmal besser zu machen, als sie schon sind.

Mittlerweile habe ich keine Musterstücke mehr, an denen ich mich orientiere, sondern es fängt mit meiner eigenen Idee und einer Zeichnung an. Nach der Rein-Zeichnung, die ich mit Stift und Papier anfertige, um das was ich im Kopf habe zu visualisieren, folgt die Überlegung: Funktioniert das, was ich mir ausgedacht habe? Dadurch kann ich schon aussortieren, da sich manche Ideen im Kopf zwar gut anfühlen, aber auf dem Papier schon widerlegt werden können. Oder kurze Zeit später in der Musterung. Denn wenn ich die Tasche dann in 3D ausfertige, bemerke ich immer noch einige Sachen, die entweder hapern oder richtig gut funktionieren. Der Zufall kommt auch dazu, manche Dinge sind schon entstanden, die waren vorher gar nicht in der Zeichnung vorgesehen.

Wie lange dauert es, bis ein ATEM Produkt fertig ist?

Puh, ein Vierteljahr oder länger. Manche Taschen werden aber auch nie richtig fertig. Ich hab’ so viele Zeichnungen, die für mich als solche stehen, aber bisher noch nie in die Ausfertigung kamen, da ein anderer Taschenentwurf leichter von der Hand ging, sich schneller nähen ließ oder im Freundeskreis bzw. beim Kunden schneller Anklang gefunden hat. Wenn Faktoren mir zeigen, dass es funktioniert, dann kann eine Tasche auch in zwei Wochen auf dem Markt sein.

Du hast schon sehr viele Jahre im Retail gearbeitet. Die Branche hat sich in den letzten Jahren, vielleicht manchmal etwas verspätet, aber dennoch immer wieder einigen Veränderungen unterworfen, die immer noch andauern. Wo siehst du die Zukunft des Retail?

Der Mensch hat 5 Sinne. Das Optimum ist es, diese zu erkennen und anzuregen, denn dazu ist das Internet noch nicht vollständig fähig. Der Mensch ist ein fühlender Mensch, der berührt werden und mit Gefühlen kaufen möchte, die man auf dem Screen nur begrenzt bekommt. Außerdem gilt es, die Architektur und die schnelle IT-Entwicklung miteinander in Einklang zu bringen, damit der Kunde das Erlebnis hat, mit allen seinen Sinnen etwas zu entdecken.

Nicht nur im Retail bist du viel herumgekommen, sondern auch in Deutschland hast du in den größeren Städten gewohnt. Was ist die schwulste Stadt in Deutschland?

Für mich… Berlin. (lacht)

Hast du einen Unterschied innerhalb der schwulen Subkultur festgestellt? Unterscheidet die sich in den Städten? 

Die Unterschiede gibt es, aber die kann ich nicht benennen. 

Ich wollte gar nicht auf eine bestimmte Antwort hinaus. Ich finde nur, dass jede Stadt ihre eigene Stimmung hat, die sich oft in der schwulen Subkultur niederschlägt, konnte den Unterschied aber selber nicht benennen. 

Das ist spannend, denn wenn es die Frage gibt, muss es ja den Ansatz einer Antwort geben. 

Ich glaube, in Berlin ist ein freierer Kleidungsstil präsenter, da schwule Codes für die Kleidung aufgehoben wurden. So lässt sich von der Klamotte nicht mehr auf die sexuelle Orientierung schließen. Außerdem ist Berlin ein Refugium für Personen mit Homosexualität, wo man sich vorerst sicher fühlt, und das schlägt sich nieder.

Da stimme ich zu. Hier hast du einen Zufluchtsort für verschiedene Geschmäcker, die du hier ausleben kannst. Weil es jemand gibt, der auch so denkt, da der Zulauf nochmal größer ist. Dadurch bilden sich Gruppen, in denen man sich stark fühlen kann. Dann gibt es auch noch die einzelnen Personen. Die wiederum fühlen sich wegen den Gruppen stark. Dadurch können diese Gruppen nebeneinander leben und werden dafür auch gefeiert.

Being tolerated or being celebrated does make the difference. Das macht ein LebensgefĂĽhl aus. AbschlieĂźende Frage: WofĂĽr bist du am dankbarsten?

Für meine Gesundheit. Dass ich meine Freude, die innerlich in mir lodert, auch weitestgehend teilen kann. Mit meinen Freunden sein, Dinge einatmen und sehen – das ist dem Wohlbefinden durch die Gesundheit geschuldet. Dafür bin ich dankbar.

Die Gesundheit – der Luxus der heutigen Zeit. Nelson, danke fĂĽr das Gespräch. 

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Thank you, Nelson, for being part of THE WASTED HOUR.

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