MARTIN HUFNAGEL

I THOUGHT WE WERE OVER

Posted:
 2 January 2019

Photos & Text: Martin Hufnagel

Ich schob die schweren Vorhänge zur Seite und blickte aus dem Fenster in ein alles erdrückendes Grau.
Einen Augenblick hielt ich inne, danach fuhr ich mir mit der Hand durch das immer dĂĽnner werdende schwarze Haar. Obwohl es schon fast Mittag und ich seit Stunden wach war, kreisten in meinem Kopf bisher nur dumpfe Gedanken. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, als ich die Klamotten vom Schrank in den aufgeklappten Koffer legte.

Eine Stunde später saß ich im Taxi auf dem Weg zum Flughafen.
Der Fahrer trug eine blaue WollmĂĽtze und unterbrach sein Schweigen auch dann nicht, als er meinen Koffer aus dem Auto hob.
Am Schalter war niemand vor mir und die Dame, bei der ich meinen Koffer aufgab, lächelte mich bei der Rückgabe meines Ausweises schwach an, bevor sie auf dem Boarding Pass das Gate in Form einer Blume rot umrandete.

Es dauerte nochmal länger als gewöhnlich, bis sich alle Passagiere im Flugzeug eingefunden und ihr Handgepäck verstaut hatten.
Mein Platz befand sich im vorderen Teil des Flugzeugs. Während des Starts blickte ich einfach auf die Anschnallzeichen. Die Kopfhörer behielt ich in den Ohren, auch wenn ich die ganze Zeit noch keine Musik gehört hatte.
Das Geräusch der Turbinen und das der Lüftung klangen zuerst unangenehm, irgendwann beruhigend monoton in den Ohren.
Als die Stewardess begann, das Essen auszuteilen, schloss ich die Augen und versuchte, an nichts zu denken.
Stille kehrte erst wieder im Taxi ein, dessen Fahrer im kurzärmligen Kaki-Hemd den Wagen routiniert in die Innenstadt der spanischen Metropole lenkte.
Die Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee war, hier in diese Stadt zu kommen, wurden das erste Mal von der Wärme der Sonne zerstreut, die ich aufsog, als ich in der Straße vor dem Apartment stand und auf den Vermieter warten musste. Irgendwer hatte das Tempo verringert. Zumindest hatte ich das Gefühl, auch wenn kontinuierlich Menschen zielgerichtet vor mir vorbeiliefen.

Als ich nackt vom Bad zurück ins Schlafzimmer lief, erhaschte ich einen kurzen Blick von mir selbst in dem schräg stehenden Spiegel im Flur.
Kurze Zeit blickte ich mich noch einmal fragend an, nachdem ich einen hellgrauen Merinopullover, eine dunkelblaue Jeans und weiĂźe Sneaker angezogen hatte.

Obwohl es schon anfing, dunkel zu werden, war es drauĂźen noch immer angenehm warm.
David hatte in seiner letzten Nachricht vorgeschlagen, sich in einer Bar zu treffen. Ich wollte es nicht, doch je kĂĽrzer die Entfernung zu diesem Ort wurde, desto schneller schlug mein Herz.
Wie im Tunnel legte ich die letzten Meter zurĂĽck. Ein letzter, eigentlich ĂĽberflĂĽssiger Blick auf die Wegbeschreibung auf meinem Handy verriet mir, dass sich die Bar in zehn Metern auf der gegenĂĽberliegenden StraĂźenseite befand.
Er war bereits dort, saß zurückgelehnt auf dem Aluminiumstuhl, die Füße übereinandergeschlagen, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Seine Augen wurden durch eine weiße Sonnenbrille verdeckt, obwohl durch die hohen Häuserwände kein direktes Licht mehr in die Straße drang.
Ich blieb kurz stehen, der Moment verstrich, und danach erwachte er aus seiner Ruhe und drehte den Kopf intuitiv in meine Richtung. Seine zuvor noch streng wirkenden GesichtszĂĽge hellten sich auf. Er nahm die Sonnenbrille ab.
Beruhigend und erschreckend zugleich, dass zehn Jahre mit all ihren persönlichen Weiterentwicklungen, Aufstiegen im Berufsleben, neuen Bekanntschaften und neuem Lebensmittelpunkt alleine durch das Wiedersehen mit einer Person belanglos wirken.
Auf dem Weg hatte ich mich dauernd gefragt, wie ich ihn begrĂĽĂźen wollte. Wir umarmten uns kurz, und beim Vorbeugen stieĂź ich mit meinem Knie unbeholfen gegen einen der StĂĽhle.

Ich setzte mich an den Tisch, die enthusiastische Kellnerin kam sofort, und ich bestellte ein Getränk, während ich mir, noch leicht verlegen, durch die Haare fuhr.
Wir hatten so viel Zeit unseres Lebens miteinander verbracht und teilten so viele Erinnerungen, doch es dauerte kurz, bis wir ein Gesprächsthema fanden.
Nachdem wir festgestellt hatten, dass es wirklich genau zehn Jahre her war, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten, bewegte sich unser Gespräch überraschend in der Gegenwart und der Zukunft.
Die Vertrautheit kam schnell und breitete sich immer weiter aus. Ich konnte es nicht vermeiden, dass mir bei jedem intensiven Blickkontakt kurze Szenen von frĂĽher in den Kopf schossen.

Drei kalte Bier später bedurfte es keiner expliziten Aussprache, sondern lief selbstverständlich darauf hinaus, dass David schräg hinter mir stand, als ich mit dem Schlüssel die Holztür zu dem Apartment aufsperrte. Ich hielt es gerade noch aus, bis er die Tür geschlossen hatte, ihn fest in meine Arme zu nehmen.
Meine Hand strich ĂĽber seinen weichen Hinterkopf und ich atmete seinen Geruch am Hals ein. Es war wie ein Sog in eine andere Zeit.
Die ganze Nacht lagen wir wach, abwechselnd in unseren Armen, und tankten gegenseitig die körperliche Nähe. Erst kurz bevor die Sonne am Morgen durch die Lücke im Vorhang einen Lichtstrahl über das Parkett warf, hatten wir noch einmal schnellen Sex. Danach tauchte ich ab in einen seichten Schlaf.

David sah am Morgen so friedlich aus, als er neben mir lag. Zu mir gewandt, seine Hand unter seinem Kopf und seine länger gewordenen, immer noch hellblonden Haare im Gesicht.
Der gestrige Abend war einer der schönsten seit langer Zeit gewesen. Ich lief in die Küche, um einen Kaffee zu machen.
Genau als ich mit zwei Tassen zurück ins Schlafzimmer lief, erfüllte mich eine Schwere. So intensiv, dass mir die nächsten Bewegungen schwer fielen.
Ich versuchte, dagegen anzukämpfen, aber je mehr ich versuchte, die Gedanken zu verbannen, desto stärker setzten sie sich fest.

Das Gefühl folgte uns fast jeden Augenblick, den wir die nächsten Tage miteinander verbrachten. Es war so schön, diese Zeit miteinander zu verbringen. So gelöst, weit weg und zusammen. Gleichzeitig war es so schade, dass all das erst jetzt und so spät stattfand.
Besonders am Morgen oder am Abend, wenn die Sonne das Licht durch die schmalen Gassen trieb und die Häuser in ein sanftes Braun tauchte, hämmerte es dauernd in meinem Kopf: Wieso nicht schon so viel früher?
David spürte es auch. Ich konnte seine Gedanken fast hören, wenn er mit dem Kopf auf meiner Schulter lag, wahrscheinlich meine Herzschläge zählend, und sich gleichzeitig fragte, wie viele Schläge vergangen waren, seitdem er das letzte Mal dort gelegen hatte. Ob und wann er wieder dort liegen würde.

Zumindest stellte ich mir diese Frage, als ich ihn drei Tage später am Flughafen noch einmal in die Arme nahm.
Es gab nicht die richtigen Worte, nicht die korrekte Art uns nach dieser Woche zu verabschieden. Nach einer letzten Umarmung wandte ich mich ab, senkte den Kopf und lief den langen Flur in Richtung meines Gates.
Ich wollte nicht auf den Boden schauen also drehte ich meinen Kopf nach rechts. Mein Blick glitt durch das gläserne Meer auf das Rollfeld. Dann konnte ich es doch nicht lassen mich noch einmal ganz umzudrehen und in seine Richtung zu blicken. Ich weiß nicht ob ich es erwartet habe, aber er stand immer noch unbewegt da und schaute mir nach.

See more pictures by our editor-in-chief Martin here:
Instagram