I'VE BEEN WRONG FOR FAR TOO LONG
READ| 12 July 2018
Text & Title Photo: Tobias Melcher
Photos of Album Covers: Courtesy of the Artists
Wie Panteras Cover von Vulgar Display of Power eine neue Welt für mich öffnete.
Kleines Experiment: Wisst ihr, wie die letzten Cover der Alben von Katy Perry oder Justin Bieber aussehen? Das letzte von Rihanna? Taylor Swift? Ed Sheeran? Wie steht es mit Bruno? Nein? Vielleicht schafft ihr noch das von Adele, da würde ich drauf wetten, ja.
Aber was ist mit den Beatles, die über den Zebrastreifen gehen? Das Cover der Sex Pistols aus Lila, viel Gelb und etwas Schwarz? Das nackte Baby im Wasser, hm? Die Zunge der Rolling Stones? Paul Simonon, der auf dem The Clash-Cover gleich seinen Bass zerstören wird? Die gelbe Banane von Andy Warhol für The Velvet Underground and Nico? Sobald ich „Dark Side of the Moon“ sage, seht ihr schon das Prisma auf schwarzem Hintergrund, das den Lichtstrahl bricht – oder?
Wenn man sich die besten Albencover aller Zeiten anguckt, findet man nur sehr wenige der letzten 20 Jahre, und so gut wie gar keine der letzten 10 Jahre. Woran liegt das wohl?
Ein Albumcover konnte früher Interesse wecken, im besten Fall sogar zum Kauf anregen. Es lohnte sich also, darin zu investieren und sich Gedanken darüber zu machen. Musik verbreitet sich heute anders, man kann sie mithilfe von Smartphones überall abrufen. Ganze Alben zu hören ist nicht unbedingt mehr zeitgemäß, vielmehr besteht die eigene Playlist aus persönlich ausgesuchten Hits von mehreren Alben.
Wieso also die Mühe und auch das Geld investieren, wenn doch alleine der Name der Superstars für hohe Verkäufe und mehrere Millionen Streams sorgen kann? Da reicht heute leider oft einfach der Künstler auf dem Cover, oft in Schwarz/Weiß und in nachdenklicher oder kraftvoller Pose: Recherchiert mal die Cover von Adele, Beyoncé oder Lady Gaga, nur um meinen Punkt klar zu machen.
Sicherlich liegt es zum einen am geänderten Auswahl- und Kaufverhalten der Konsumenten. Dadurch verändern sich auch die Hörgewohnheiten. Es gibt mittlerweile mehrere Streaming-Anbieter mit einer unzählbaren Menge an Songs. Oft hört man diese nebenbei, am PC, in der Bahn mit einem Buch, im Auto. Wann setzt man sich heute noch mit Booklet auf eine Couch und hört ein Album von vorne bis hinten? Oder noch besser gefragt: Wie soll man heute auch noch die Zeit finden, Musik so wie früher zu hören? Oh, da war es. Das leise Schwingen der „Früher war alles besser!“-Keule, die wir uns seit Generationen um die Ohren prügeln.
Wie war das denn „früher“? Nun, in meinem Fall ging ich damals, im Sommer 1997 im Alter von 14 Jahren, durch den Elektronikmarkt meines Vertrauens. Vor wenigen Monaten hatte ich den Crossover entdeckt und konnte mich nicht satt hören an den Groove und Passagen, zu denen man so schön springen konnte. Das Vorgehen bei der Auswahl potentieller neuer Musik war damals recht optisch fixiert: Wenn ein Albumcover gefiel, wurde die CD mitgenommen zu einer der Abspielstationen.
War ich mir nicht sicher, oder die CD nicht im System der Abspielstation hinterlegt, legte ich sie zurück. Überzeugte die Musik, wurde die CD gekauft. Doch jede Investition musste ich mir gut überlegen, immerhin waren mehr als 1 oder 2 CDs im Monat das Maximum für mein kleines Budget. So ging ich vorbei an den Regalen mit den ganzen reduzierten CDs, vorbei an den unzähligen Exemplaren von Best-of-Santana-Platten oder den 80er-Jahre-Alben von Jon Bon Jovi. Und wie viele Exemplare gab es da eigentlich immer von R.E.M Automatic for the People? Im Schlendergang bewegte ich mich also an den reduzierten Platten vorbei, bevor ich eine einzelne CD sah, die mich im Gang stoppen ließ. Dermaßen abrupt, dass ich auf einem Bein balancierte, um mir die CD genauer anzusehen.
Das gräuliche Foto fiel mir zuerst kaum auf, neben den ganzen Farbexplosionen links und rechts davon im Regal. „Pantera“ stand da in weißer Schrift, in Großbuchstaben. Noch nie gehört. Und was soll „Vulgar Display of Power“ überhaupt heißen? Oder war das der Bandname? Während ich noch überlegte, verstand ich erst, was da auf dem Cover gezeigt wurde: Ein Mann bekam einen Schlag ins Gesicht.
Ich zählte meine Münzen und hätte die 7,99 auch gehabt, doch ich war skeptisch. Die Rückseite mit den Songtiteln war für mein damaliges Englisch simpel genug („Walk“, „Mouth for War“, „Rise“ etc.), auch wenn ich nicht verstehen konnte, was zur Hölle ein „Hostile“ war. Aber die 4 Männer da auf der Rückseite sahen auf jeden Fall nach jeder Menge Spaß aus. Ich beschloss reinzuhören, hatte die Rechnung aber ohne meinen Vater gemacht, der bereits Richtung Kasse ging und mich zu sich rief. Eine CD kaufen, ohne vorher in sie reingehört zu haben? Nein, ich konnte es mir nicht leisten, die Katze im Sack zu kaufen. Da legte ich die CD zurück und wollte schon einen Schritt gehen, als mein Blick wieder auf dieses Cover fiel.
Zum Glück war meine Jugend sehr sicher und behütet gewesen, daher kannte ich solch eine Form von Gewalt aus meinem Umfeld nicht. Vielleicht konnte ich meinen Blick deswegen nicht vom Cover abwenden. Es wirkte so anders als alles, was ich bis dahin gesehen hatte. Ich kann nicht sagen, wieso ich dann nach vorne griff, die CD nahm und zur Kasse ging. Ich glaube, ein Teil von mir wollte nicht mehr Bon Jovi hören, sondern wissen wie es klingt, wenn man einem Mann die Faust ins Gesicht schlägt.
Credit: Tobias Melcher
Die skeptischen Blicke meines Vaters und der Kassiererin nahm ich gar nicht richtig wahr. Ich war schon zu gespannt auf diese Jungs von Pantera.
Daheim frische Batterien in den DiscMan und dann endlich die Vulgar Display of Power eingelegt. Als „Mouth for War“ anfing, packte mich bereits der Groove, mein Körper wippte mit und ich den Kopf zum Takt. Als nach 37 Sekunden Phil H. Anselmo „Reveeeeenge, I'm screaming revenge again!“ mir direkt in den Kopf brüllte, saß ich in meinem Kinderzimmer und war einfach nur geplättet. Auch direkt danach. „Wrong, I've been wrong for far too long!“ Ich bekam meine Kinnlade nicht mehr hoch.
Direkt nahm ich das Booklet heraus und las die handgeschriebenen Texte mit. Es dauerte nicht mal bis „Walk", da war ich dieser Band verfallen. Ich schaute mir die Fotos an und war nun Fan von Vinnie Paul, Rex, Diamond Darrel und Phil Anselmo. Mehr als es die ganzen Mädchen in meiner Schule von ihren Boygroups je sein könnten. Meine Mundwinkel zogen sich nach unten und ich schaute mit jeder Textzeile grimmiger, akzeptierte diese Band nun als meine neue Religion und mochte über meinen bisherigen Musikgeschmack nur lachen.
Nun gab es noch mehr Groove. Nun gab es auf die Fresse. Nun gab es ein neues Level an Aggressivität... und ich liebte es. Als Track 5 („This Love“) die andere Seite von Pantera zeigte, war ich zuerst irritiert. Er singt? Ruhiger Song? Der Refrain riss die Wände dann wieder ein, zum Ende hin war das Ganze wie ein Fiebertraum, und als die Band nach Phils Ansage „No more head trips!“ sich zum Ende stampfte, stand ich bereits und moshte mich mit imaginären Freunden zu genau diesem Song.
So ging es weiter, Schlag auf Schlag, wie in einer guten Schlägerei. Der Eröffnungs-Riff zu „By Demons Be Driven“ ließ mich imaginär die Gitarre spielen, ich sang die Songs mit und fragte mich, welcher Dämon da Gitarre spielte. Das Timing, die Riffs und die Atmosphäre, die Darrel an seinem Instrument in diesen Minuten mir offenbarte, waren wie ein Erwachen. Dies ist also möglich! Das ist der Sound, den ich suchte! Rau, dreckig und doch gut genug produziert, dass man jede Feinheit, jede Vibration in der Stimme hören konnte. Man reduzierte die Songs auf das Nötigste, auf genau die Stimmung, die man in diesen Minuten per Musik transportieren wollte. Ob nun geknüppelt, gesungen oder atmosphärisch gearbeitet wurde, jede Note war an ihrer richtigen Stelle.
„Hollow“ zum Beispiel mit seinen ruhigen Noten und der dichten Stimmung ließ mich die Augen schließen. Als Vulgar Display of Power mit seinen 11 Songs und nach knapp 50 Minuten beendet war, stand ich mit Schweiß auf der Stirn da und konnte nichts außer lächeln. Das war es, genau das war es. Die Macht, die Musik, egal welchen Genres, in Menschen haben kann, wurde mir erst an diesem Tag bewusst.
Ich nahm die Kopfhörer von den Ohren, sah mir noch mal alle Fotos und die Texte an, setzte die Hörer wieder auf und drückte erneut auf „Play“. Es war Durchgang Nummer 2. Bis zum heutigen Tag sollten noch hunderte weitere folgen.
Was Vulgar Display of Power für mich zu einem besonderen Album macht, ist neben der musikalischen Güteklasse seine Pionierleistung für mich und meine musikalische Entwicklung. Ab da ging es immer weiter, mit jeder Menge Tempo wurde der Thrash-, Death- und Blackmetal lieben gelernt, und Musik wurde von einem Freizeitding zu einer Leidenschaft. Jeden Tag lief Musik, jeden Monat wuchsen die CD-Sammlung und die Patches auf dem Rucksack. Pantera stießen mich in die richtige Richtung, zeigten mir neue Wege und offenbarten mir dabei unzählige Stunden voller Glück. Ich habe unfassbar viele schöne Erinnerungen, wo Pantera den Soundtrack im Hintergrund spielt.
Credit: Joe Giron
So erst vor ein paar Jahren, als ich mit einem meiner besten Freunde in einen Club ging, wo überwiegend härtere Musik gespielt wird. Bisher war der Abend für uns beide eher dürftig gewesen. Doch als dann 2 Pantera-Songs hintereinander gespielt wurden, schüttelten wir unsere Haare, sprangen umher und imitierten Phil Anselmo zu „Walk“, nur um danach zu „Cowboys From Hell" einen 2-Mann-Cirlcepit um einen Tisch zu veranstalten. Wir lachten, verloren zwar unser Bier aus den Händen, aber für ein paar Minuten gab es dort nur Pantera und Glückseligkeit. Alles andere war ausgeblendet, alles ganz weit weg. Wegen solcher Momente liebe ich Musik. Wegen solcher Momente lebe ich.
Als Pantera am 1. Juni 1998 in meine Heimatstadt Köln auf Tour kamen, um ihr neues Album Reinventing the Steel zu präsentieren, und ich sie in der altehrwürdigen Live Music Hall hätte sehen können, traute ich mich nicht hin. In meinem Freundeskreis hörte damals niemand solch harte Musik, und durch die Musikvideos und die damaligen Home-Videos der Band auf VHS Kassetten fühlte ich mich einfach nicht so weit, so reif und männlich, mir Pantera anzusehen.
Durch die Home-Videos von Pantera hatte ich das Gefühl, die Mitglieder zu kennen. Liveaufnahmen der Tour, allerlei Unfug, viel Alkohol, Vandalismus und jede Menge Spaß. Mich schüchterte das Ganze ein, faszinierte mich aber zugleich, denn das war die Art von Spaß, für die man schon erwachsen sein sollte. Dann noch die Fanbase von Pantera, die sich einen Ruf für besonders wild, verrückt und laut erworben hatte. Auch für sie war Pantera mehr als eine Band, aber das half mir nicht, um mich auf das Konzert zu trauen.
Sie kamen 2000 wieder, aber das Konzert war ausverkauft, bevor ich es mitbekommen konnte. Ein Jahr später verhinderte 9/11 eine weitere Tour der Band in Deutschland. Dann distanzierte sich Sänger Phil Anselmo von der Band und widmete sich mehr seinem Projekt „Down“. 2003 schließlich löste sich Pantera auf. Ich war am Boden zerstört. Natürlich hatte ich im Laufe der Jahre viele weitere Bands liebgewonnen, aber Pantera? Sie waren die ersten für mich gewesen. Mit einem Album, welches damals schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. Zwar konnte ich Jahre später Rex und Phil mit ihrer Band „Down“ und Vinnie und Dimebag in ihrem neuen Projekt „Damageplan“ noch live erleben, doch ich und Millionen anderer Fans weltweit wollten die Hoffnung auf eine Reunion, ein neues Album und eine neue Tour von Pantera nie aufgeben.
Doch dann wurden alle Hoffnungen zerstört. Am 8. Dezember 2004 trat ein Mann während des Gigs von Damageplan auf die Bühne in Columbus, Ohio, und erschoss Dimebag Darrel. Diese schreckliche Tat erschütterte nicht nur die Heavy Metal Szene, sie verursachte auch für kurze Zeit einen Hype um Pantera. Ihre Musik war wieder in den Charts und im öffentlichen Bewusstsein. Es gab Pantera-Abende in Clubs und man sah man auf Festivals und Konzerten wieder verstärkt Merchandising für die Band. Über Jahre hinweg machten immer wieder Gerüchte die Runde, die Band würde mit Hilfe des Gitarristen Zakk Wylde ein letztes Mal auf Tour gehen, um Dimebag zu ehren. Tatsächlich war das nie ernsthaft geplant. Trotzdem kreiste diese kleine Hoffnung oft in meinem Kopf.
Letzten Freitag hörte ich auf zu hoffen, als Drummer Vinnie Paul Abbott in seinem Zuhause in Las Vegas an einem Herzinfarkt verstarb. Anschließend verneigte sich die gesamte Metalszene ein weiteres Mal vor dieser großartigen Band. So auch ich am Tag danach. Zu „Cowboys from Hell“ drehte ich alleine und besoffen einen Cirlce Pit um einen Bartisch und dankte den Vieren von ganzem Herzen für ihre Musik und all die schönen Erinnerungen.
Credit: Joe Giron