REALNESS IN ZEITEN VON KOMMERZ

„2011 Rap-Geschäft, es geht um Cash.“ (Haftbefehl, „IHNAMG“)

READ| 5 August 2018

Text: Heidi Süß
Title Photo: Martin Hufnagel

Ein kurzer Blick in das Diskursuniversum Rap macht deutlich, dass der Mythos vom sozialen Aufstieg á la rags to riches dort nicht nur omnipräsent ist, sondern vor allem seitens gesellschaftlich marginalisierter Gruppen geglaubt und aufrechterhalten wird. Die Narrative des Gangsta-Rap stellen sich dabei als besonders aggressive Affirmation eines neoliberalen Wertesystems dar: „Gangsta-Rapper sind die vermeintlich kompromisslosesten Neoliberalen unserer Zeit. Natürlich nicht dessen spiritus rectors, verkörpern und propagieren sie Materialismus und Wettbewerb stärker als Josef Ackermann, Jürgen Schrempp oder Guido Westerwelle es je vermögen“ beschreiben Bendel/Röper (2017:105) die deutschsprachige Szene in einer aktuellen Publikation zum deutschen Gangsta-Rap. 

Und tatsächlich begegnet wohl nur einer politisch-feministisch engagierten Person die Farbe „lila“ häufiger als einem/einer aufmerksamen Gangsta-Rap-Zuhörer_in. Weniger als Symbol für die Frauenbewegung oder die Gleichstellung der Geschlechter, ist der lila 500 Euro-Schein zweifelsohne des deutschsprachigen Gangstas beliebteste Banknote; die Farbe lila längst zur zentralen Chiffre für den sozialen Aufstieg avanciert. Für lila – so der Subtext der allermeisten Tracks – gehen Rapper über Leichen („mit zwanzig Jahren das erste Mal Schüsse gefallen für lilane Batzen“, KMN-Gang), in den Knast („auf der Suche nach lila machst du Halt hinter Gittern“, KMN-Gang) und auch die alte (eher romantisch-rhetorische Frage) nach „Geld oder Liebe“ steht im Gangsta-Rap nicht wirklich zur Disposition: Money over bitches ist die Devise oder wie es meine Lieblings-Rap-Boyband, die KMN-Gang ausdrückt: „Keine Liebe mein Herz schlägt für lila“.

SellOut Wholecar
Credit: The Grifters

Was ist denn mit der Realness? (Marsimoto, „Wellness“)

Mit dem Credo des reich-werden-wollens by all means neccessary begeben sich insbesondere Akteur_innen im HipHop-Bereich allerdings auf äußerst dünnes Eis, widerspricht (oder widersprach, aber dazu später mehr) das going commercial doch eigentlich dem subkulturell ausdauernd reproduzierten Postulat um die sagenumwobene Authentizität. Anders ausgedrückt: Wer mit HipHop, zum Beispiel als Rapper, erfolgreich wird, der sieht sich schnell mit dem „Sell-Out“-Vorwurf konfrontiert.

Ein Totschlagargument, das insbesondere von älteren Szeneprotagonist_innen und solchen, die sich einem wie auch immer definierten „echten HipHop“ zuordnen, vorgebracht wird. Auch in Deutschlands Beef-Blaupause wird die Sell-Out-Keule als verbaler Totschläger bemüht. „Ihr setzt Erfolg über Realness, setzt Cash über Freunde“ attackiert Kool Savas seinen ehemaligen Schützling samt Freundin und sorgt dafür, dass Eko Fresh für einen Großteil der damaligen Szene tatsächlich für einige Jahre zur Persona non grata wird. Zugegeben, auch für mich.

Eine schlüssige Argumentation, die die Unvereinbarkeit von Realness und Kommerz darlegt, sucht man in den meisten Tracks oder Aussagen deutschsprachiger Rapper_innen allerdings vergebens. „Sell-out, Sell-out, ich habe HipHop nicht verstanden“ rappt HipHop-Millenial* 3Plusss im gleichnamigen Track folgerichtig und entlarvt den tradierten Wertekanon der HipHop-Szene zurecht als hochgradig ambivalent.

Fake ohne Grund?

Dass Realness und kommerzieller Erfolg nicht zusammenpassen, gehört zu den vielen Mythen des HipHop und wurde – wie viele andere Mythen auch – von der deutschen Szene recht unreflektiert adaptiert und ausdauernd zum Kanon stilisiert. Abgesehen davon, dass es natürlich unschön ist, wenn eine kreative und zuweilen subversive Subkultur von szeneunkundigen Majorlabels und schmierigen A&Rs massenindustriell vermarktet wird, verweist die Kausalkette „hip-hop rich = fake“ im Mutterland des HipHop, den USA, noch auf einen ganz anderen, nämlich historischen Zusammenhang. Es ist der bis in die Zeiten der Kolonialherrschaft zurückreichende, strukturelle Rassismus und das daraus resultierende Dilemma, eine originär Schwarze** Ausdrucksform (=Rap) an ein weißes Publikum und damit an eine gesellschaftliche Gruppe zu verkaufen, die Schwarze Menschen über Jahrhunderte hinweg unterdrückt und ausgebeutet hat.

Weil auch die US-Musikindustrie als weiß dominiert gelten kann, befürchten viele Schwarze Rapper_innen die Kontrolle über ihre Musik und Images zu verlieren. Vor diesem grob skizzierten Hintergrund lässt sich nachvollziehen, warum Authentizität insbesondere im US-amerikanischen HipHop eng an die Dimension race bzw. Ethnizität*** geknüpft ist und die Gleichung black = authentic wiederum eine ökonomische Konnotation hat. Ohne die „race question“ – da ist sich die HipHop-Forschung weitestgehend einig – ist US-amerikanische Popmusik und damit auch Rap nicht versteh- geschweige denn analysierbar. Aber auch das ist nur eine Seite der Authentizitätsmedaille.

Was ist denn jetzt mit der Realness? HipHops „authenticity debates“

Ein Siebtel des 750 Seiten starken HipHopStudies Reader – ein bibelähnliches Sammelwerk der hip-hop studies – ist allein den „authenticity debates“ des HipHop gewidmet. Der Prozentsatz an Raptexten, die das Thema mehr oder weniger explizit behandeln, mag weitaus höher liegen. Um es also vorwegzunehmen: Was real ist und was nicht, wird auch in diesem Artikel nicht geklärt werden können. Zu unterschiedlich die Perspektiven und zu verschieden die Voraussetzungen, unter denen Authentizität immer wieder neu verhandelt wird, womit wir beim springenden Punkt der Debatte wären: Authentizität hat keinen semantischen Kern, keine feststehende Bedeutung.

Der Kommunikationswissenschaftler McLeod (1999), der sich umfassend mit Realness im HipHop beschäftigt hat, nennt das Konzept einen sog. „floating signifier“, also eine Art umherschwirrende Worthülse, die ihre Bedeutung in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext erhält. Und weil sich die gesellschaftlichen Gegebenheiten unter denen Rap stattfindet immer wieder mal verändern, muss auch die Inhaltsseite des Authentizitätsbegriffs immer wieder mal modifiziert werden. Eigentlich logisch. 

Dr. Dre und Eminem
Credit: Unknown

Vanilla Ice
Credit: Unknown

The White Rapper – HipHop-Authentizität im Wandel Pt. 1

Auch wenn es viele Rap-Fans nicht bewusst mitgeschnitten haben: Die Realness-Mentalität hat sich in der Geschichte des HipHop schon mehrmals verändert. Ein erster „shift in hip-hop authenticity“ lässt sich gut am Beispiel Eminem aufdröseln und erklärt auch den kleinen Exkurs um race/Ethnizität und Authentizität weiter oben im Text. Eminem nämlich, hat etwas geschafft, was seit dem Skandal um Vanilla Ice praktisch unmöglich schien: Authentischen weißen HipHop. Als damals herauskam, dass die hood stories des weißen Vanilla Ice eher wenig mit dessem „echtem“ Leben zu tun hatten, war für viele endgültig klar, dass HipHop eine originär Schwarze Kultur ist und auch am besten immer bleiben sollte.

Wie aber hat Eminem die gute alte Formel des „black = authentic“ aufgebrochen? Er hat sich auf eine andere Art und Weise authentifiziert, zum Beispiel dadurch, dass er – noch dazu ziemlich skillful – auf seine deprivilegierte Trailerpark-Sozialisation verwiesen hat. Damit hat er sich sozusagen entlang der Kategorie class (und nicht race) authentifiziert und vielen Schwarzen TrueSchoolern gleichzeitig aufgezeigt, dass Marginalisierung auch in den Staaten nicht nur mit (Schwarzer) Hautfarbe zu tun haben muss, oder anders: Weiß-sein nicht automatisch Privilegiert-sein bedeutet. Dazu ein Zitat: 

„Rather than imitate a model of hip-hop blackness, Eminem emphasizes the autobiographical basis of his lyrics and his struggle to succeed as a rap artist; he presents a new model of white hip-hop authenticity in which being true to yourself and to your lived experiences can eclipse notions of hiphop as explicitly black-owned.“ (Hess 2005:373).

Eminem hat also nicht einfach einen auf Schwarz gemacht, sondern auf seinen Struggle als Weißer verwiesen. Und dieser Struggle war/ist real; er hatte einen „autobiographical basis“. Damit hat er einer wichtigen und in Vergessenheit geratenen Dimension von HipHop-Authentizität ein signifikantes Revival beschert, einer Dimension deren Trumpf sogar den Blackness-Joker stechen kann: „being true to yourself“ (and to your lived experiences). 

Jay-Z live, Splash 2008
Credit: Martin Hufnagel

„I’m not a businessman, I’m a business, man“ (Jay-Z) – HipHop-Authentizität im Wandel Pt. 2

Die „being true to yourself“– Dimension ist DIE Lösung des HipHop-Identitätsdilemmas Nr.1. Denn „reich sein“ und „ehrlich zu sich selbst sein“, schließt sich ja prinzipiell nicht aus. Damit sind wir bei der zweiten zentralen Verschiebung des Authentizitätskonzepts des HipHop angekommen, denn wie inzwischen jede_r mitbekommen haben wird, wird „reich sein“ (oder reich werden wollen) und „real sein“ heutzutage nur noch von den wenigsten Szenemenschen als Widerspruch empfunden. „I’m not a businessman, I’m a business, man“ erklärt der – immerhin Schwarze – Jay-Z im typischen HipHop-Größenwahnsinns-Sprech und niemand findet ihn auch nur annähernd fake.

Wie konnte das passieren? 

Dem HipHop-Forscher Mickey Hess ist aufgefallen, dass Schwarze Rapper, die „hip-hop rich“ geworden sind über eine Sache ganz besonders oft rappen: über ihre Rap-Karriere. Warum? Erstens erfüllt man damit die „being true to yourself“- Dimension von Authentizität. Zumindest dann, wenn man auch wirklich eine Karriere vorzuweisen hat, was ja im Fall Jay-Z schonmal der Fall ist. Und zweitens – jetzt kommt sozusagen Trick 17 – lassen sich mit dem Narrativ der „rap career“ andere Dinge direkt miterzählen, die höchstgradig authentizitätsbehaftet sind und jeden Sell-Out-Vorwurf endgültig im Keim ersticken. Klingt etwas kompliziert, wird durch folgende mögliche Sub-Erzählstränge aber klarer:

1. VOR der Karriere war ich hart am hustlen, das war nicht so nice, deswegen ey Digga gönn mir!

Marginalisierung/street = real (vong Ursprungsmythos her; Bronx und so)

2. Karriere machen ist 1 hard knock life. Wenig Schlaf, viele Drogen; man macht sich praktisch kaputt dabei. Bedenke außerdem die ganzen Neider, die dir den Erfolg nicht können. Glaub mir Bruda, das willst du nicht...

Die Karriere-Erzählung als Opfer-Erzählung (mir geht’s schlecht eben WEIL ich jetzt reich bin)

3. Um Karriere aka richtig Asche zu machen, muss man 1 Kanake mit Grips sein; ohne Kreativität kein Business

kreativ & originell sein = ziemlich HipHop, also real

4. Dass ich jetzt ein rich kid bin, heißt noch lange nicht, dass ich mit „denen da oben“ gemeinsame Sache mache. Ich unterschreibe Verträge mit nem tag oder meinem Penis und bin eine Art „HipHop-Abgesandter“ in der Welt der Konzerne

Loyal gegenüber dem Genre und den Werten des HipHop bleiben = sehr oldschoolig, deshalb real

Und so weiter, ihr versteht das Prinzip bzw. checkt die Links für konkrete und aktuelle Beispiele. Die Erzählung der Rap-Karriere eignet sich übrigens gleichzeitig hervorragend für die Arbeit an der eigenen Männlichkeit. Aber dazu vielleicht ein andermal mehr. 

„Einzige Mucke, wo man das, was man sagt, auch verkörpern muss“? Ein Fazit.

Die schwelenden Authentizitätsdebatten und das Problem ihrer Unentscheidbarkeit sind vermutlich ein Hauptgrund für die Lebendigkeit und Vielseitigkeit des HipHop. Insofern ist es schon auch irgendwie ok, dass die Realness heute immer noch vielen als DER Maßstab gilt, an dem ein_e Rapper_in gemessen wird.

Gleichzeitig wäre es vielleicht ein Gewinn, sich diesem Diktat nicht allzu kopflos zu unterwerfen. Die Bedeutung von Authentizität hängt vom jeweiligen Kontext ab. Sie kann und MUSS sich – wie wir gesehen haben – immer wieder mal verändern, schon allein deshalb, weil HipHop eine Kultur ist und Kulturen zum Glück keine statischen Gebilde sind.

Während die deutsche Szene sich sonst recht unreflektiert an die Fersen der Ami-Szene heftet, scheint das in Sachen Authentizität übrigens eher weniger der Fall zu sein. „To me, real is just the basis of a great fantasy. Not everything I say in a song is true. I‘ll take a small thing from life and build upon it“ wird Jay Z zum Thema zitiert. Eine Aussage, die man von Fler und Co wohl eher (noch) nicht erwarten kann. Mit der Zeile „einzige Mucke, wo man das, was man sagt, auch verkörpern muss“ triff Rapper Megaloh den Realness-Nagel da schon eher auf den Kopf.

Rap, verfügt nämlich – das hat der Literarturwissenschaftler (und Rapper) Fabian Wolbring rausgefunden – über einen äußerst ungewöhnlichen sog. ‚weiten autobiografischen Authentizitätsanspruch‘. Dieser setze zwar nicht voraus, dass das in den Texten Geschilderte tatsächlich Erlebtem entspräche, verlange aber, dass die dort geäußerte Haltung zumindest auch in lebensweltlichen Zusammenhängen vertreten, also repräsentiert werde.

„Ich hab' bis heute überlebt, yallah, geh mir aus‘m Weg, hab' mit der Straße ein Millionen-Unterneh‘m, muss sie observier'n, kann sie seh'n“ trällert Azet aktuell im Track „Überlebt“. Ob der 25-Jährige nun wirklich zu den Großverdienern der Dresdner Unterwelt gehört, kann man zwar bezweifeln, wäre Wolbring zufolge aber prinzipiell völlig unerheblich, solange Granit Musa auch in lebensweltlichen Zusammenhängen einen stabilen Gang hat („geh mir aus’m Weg“), wachsam vor Bullen oder Konkurrenten ist („muss sie observier’n“) und auf irgendeine Art und Weise wieviel Geld auch immer am scheffeln ist/war. „Take a small thing from life and build upon it“ eben.

Vielleicht zieht sich die deutsche Szene also auch mal bald den viel zu großen Realnessstock aus dem Arsch. Hova’s Mentalität könnte dabei die Gleitcreme sein- authentifiziert vom Hersteller, sozusagen.

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* Der Ausdruck „hip-hop millenial“ wird in der US-amerikanischen Literatur oft benutzt, um Menschen zu bezeichnen, die in der Zeit des digitalisierten HipHop sozialisiert sind.
** Um sichtbar zu machen, dass es sich hier nicht etwa um Farben, sondern um politische Kategorien handelt, hat sich in der Forschung die Schreibweise Schwarz (mit großem „S“) und weiß (kursiv) eingebürgert.
*** Vong Nazi-Background her, verzichtet man im Deutschen oft auf den Ausdruck „Rasse“, da er eine entsprechende Assoziation hervorruft und benutzt das englische race. Etwas unscharf übersetzt kann man aber auch Ethnizität als möglichen Alternativbegriff verwenden.